Sell in May and go away?

 

„Sell in May and go away, but remember to come back in September“

Alte Börsenweisheit

 

Der Wonnemonat Mai versetzt die Menschen allerorts in Verzückung, die Natur erblüht, der herannahende Sommer sorgt für gute Laune und lachende Gesichter. Börsianer hingegen sind wohl ein ganz besonderer Menschenschlag: Während der Rest der Welt die Frühlingssonne genießt und voller Zuversicht in die Zukunft blickt, beginnt an den Börsenplätzen dieser Welt im Mai eine Zeit des Jammers und des Trübsals, eine Periode magerer Renditen und ungewisser Aussichten.

Die Handelsmonate Juni bis Oktober bescheren den Anlegern seit Anbeginn der Börsenhistorie einen giftigen Cocktail aus unterdurchschnittlichen Renditen und überdurchschnittlichen Kursschwankungen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Da sich in den Sommermonaten zahlreiche angestammte Händler und Marktteilnehmer im Urlaub befinden, lösen negative Meldungen und externe Schocks überproportionale Kursreaktionen aus. In einem dünnen, umsatzschwachen Handel reichen einige wenige größere Verkaufsaufträge aus, um die Kurse deutlich ins Rutschen zu bringen.

Der Spätsommer ist darüber hinaus die Zeit, in der überoptimistische Unternehmens- sowie Analystenprognosen mit der kalten wirtschaftlichen Realität konfrontiert werden. Spätestens gegen Ende des dritten Quartals sehen sich viele Vorstände gezwungen, ihre allzu rosigen Gewinnerwartungen nach unten zu korrigieren. Da sich die Analystenzunft ebenfalls durch konstant überoptimistische Schätzungen auszeichnet, löst dies zumeist eine wahre Lawine an Gewinnwarnungen und Abwärtsrevisionen aus, was sich natürlich entsprechend negativ auf die Börsenkurse auswirkt.

All diese Einflussfaktoren sollten jedoch im Börsenjahr 2018 kaum, oder nur äußerst eingeschränkt gelten: In den USA erwiesen sich – nicht ausschließlich aber zu einem bedeutenden Anteil verursacht durch die massiven Steuersenkungen für Unternehmen – die Gewinnschätzungen für das erste Geschäftsquartal als bei Weitem zu pessimistisch.

Mehr als 90 Prozent der im S&P 500 vertretenen Unternehmen haben inzwischen ihre Quartalszahlen publiziert und die Erwartungen der Marktteilnehmer wurden schlichtweg pulverisiert. Die tatsächlichen Unternehmensgewinne verzeichneten einen Anstieg von mehr als 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal und das ist bei Weitem nicht alles: Nahezu alle Unternehmensvorstände hoben ihren Ausblick und ihre Geschäftserwartungen für die restlichen Quartale an und erwarten nun in jedem Quartal prozentuell zweistellige Gewinnzuwächse im Vergleich zum jeweiligen Vorjahresquartal.

Die für das Gesamtjahr 2018 geschätzten Indexgewinne belaufen sich im S&P 500 inzwischen auf mehr als 157 Dollar. Bei einem aktuellen Indexstand von rund 2720 Punkten ergibt dies ein erwartetes Index-KGV von rund 17, eine im historischen Kontext durchaus moderate Bewertung.
Die Durchführung von Aktienbewertungen ist häufig mehr Kunst als Wissenschaft, vor allem anderen ist jede Kennziffer aber eine relative Größe, deren Einschätzung und Bewertung entscheidend von ihrer Relation zu allen übrigen relevanten Kennzahlen abhängt.

In scheinbar längst vergangenen Perioden, als die Notenbanken der führenden Industrienationen noch nicht in der Kunst der quantitativen Lockerung und der subtilen Eingriffe in die Wertpapiermärkte geübt waren, als sich Zentralbankgouverneure noch nicht als Alchemisten der Neuzeit verstanden, musste man bei Vorliegen derselben Bewertungskennzahlen zu einer völlig konträren Schlussfolgerung gelangen. In einem damals üblichen Finanzmarktumfeld notierten amerikanische Staatsanleihen etwa in der Regel zu effektiven Marktrenditen von 4 bis 6 Prozent.

Sieht sich ein Investor in der glücklichen Lage, eine jährliche Rendite von 4 bis 6 Prozent bei einer Veranlagung in ein nominell risikoloses Wertpapier zu erzielen, erwartet er bei einer Investition in den relativ betrachtet deutlich riskanteren und volatileren Aktienmarkt zu Recht eine deutlich höhere Verzinsung. In der Vergangenheit waren daher in vergleichbaren Perioden erwartete Aktien-KGVs von rund 14 bis 17 üblich und boten dem Anleger eine erwartete Gesamtverzinsung seines Aktienkapitals von rund 9 Prozent (zusammengesetzt aus erwarteten Kurserträgen von rund 7 Prozent zuzüglich einer durchschnittlichen Dividendenrendite von etwa 2 Prozent).

Im aktuellen Umfeld einer weiterhin äußerst lockeren Geldpolitik und einer globalen Zinsrepression ist die Bewertung der Aktienmärkte daher als äußerst günstig zu bezeichnen. Selbst nach dem massiven Anstieg der Anleihenzinsen bei US-Staatsanleihen rentiert die richtungsweisende 10-jährige US-Staatsanleihe nur bei knapp über 3 Prozent. Ein Aktieninvestor kann hingegen bei einer Veranlagung in ein führendes Unternehmen mit einem Gesamtrendite von rund 8 Prozent kalkulieren (zusammengesetzt aus Gewinn- und Dividendenrendite am US-Aktienmarkt).

Diese Kennzahlen erklären die weiterhin hohe Attraktivität eines Aktieninvestments und zeigen, warum eine Veranlagung in den Aktienmarkt trotz der latenten Risiken und trotz einer unsicheren weltpolitischen Lage beinahe allen alternativen Investments vorzuziehen ist.

Ein erhebliches Aufwertungs- und Kurssteigerungspotenzial leitet sich ebenfalls aus einer relativ einfachen Arbitragebedingung ab. Unternehmen können den Shareholder Value steigern, indem sie Kapital am Anleihenmarkt aufnehmen und dies profitabel in Aktienrückkaufprogramme investieren. Anders ausgedrückt: Eine der weiterhin profitabelsten Anlagemöglichkeiten ist für Unternehmensvorstände ein Investment in das eigene Unternehmen.

Selbst nach dem deutlichen Zinsanstieg am amerikanischen Kapitalmarkt rentiert die durchschnittliche US-Unternehmensanleihe derzeit nur bei etwas über 4 Prozent (durchschnittliche effektive Marktrendite von Unternehmensanleihen, die zumindest ein Rating von BBB aufweisen). Ein Unternehmensvorstand, der an steigenden Erträgen und nicht zuletzt an steigenden Aktienkursen interessiert ist, kann demzufolge Fremdkapital am Anleihenmarkt zu rund 4 Prozent aufnehmen, und dieses Kapital in ein Aktienrückkaufprogramm investieren, das eine Rendite von rund 8 Prozent liefert.

Solange diese Arbitragemöglichkeit einen deutlich positiven erwarteten Ertrag bringt, wird die natürliche Tendenz des Aktienmarktes weiterhin aufwärtsgerichtet sein. Jeder Kurseinbruch, wie etwa zu Anfang dieses Jahres, bringt einen zusätzlichen Anreiz mit sich, die Aktienrückkaufprogramme weiter auszuweiten und somit positive Renditen für die Anteilseigner zu erzielen. Solange es zu keinem massiven Anstieg der Anleihenzinsen kommt und solange die Bewertung des Aktienmarktes nicht exorbitant hoch erscheint, stellt diese Arbitragemöglichkeit den Katalysator für kontinuierlich steigende Aktienkurse dar.

Die Börsentradition mag also weiterhin davon sprechen, dass mit dem Monat Mai die mageren Börsenmonate hereinbrechen, die fundamentalen Kennzahlen sprechen jedoch eine gänzlich andere Sprache. Kurseinbrüche sollten also weiterhin, selbst in den Sommermonaten, für Zukäufe und Aufstockungen bereits bestehender Positionen genützt werden.