Value Investing im Land der unbegrenzten Möglichkeiten

 

„Look at how this bill was written. Can you say it was done openly? With transparency and accountability? Without backroom deals struck behind closed doors, hidden from the people?“

John Boehner, ehemaliger republikanischer Vorsitzender des Repräsentantenhauses, im Jahr 2010 über die Gesundheitsreform Obamacare, Prestigeprojekt der regierenden Demokraten

 

„We’ve tried to do this by coming up with a proposal behind closed doors in consultation with the administration, then springing it on skeptical members, trying to convince them it’s better than nothing, asking us to swallow our doubts and force it past a unified opposition. I don’t think that is going to work in the end. And it probably shouldn’t.“

John McCain, dienstältester Senator der republikanischen Fraktion, im Jahr 2017 über die Gesundheitsreform Ryancare, Prestigeprojekt der regierenden Republikaner

 

Wir schreiben das Jahr 2010: In den Iden des März peitschen die Demokraten im Senat und im Repräsentantenhaus, Kraft ihrer neu erlangten absoluten Mehrheiten in allen Kammern, ihr von langer Hand vorbereitetes ideologisches Prestigeprojekt durch. Die Administration Obama hatte sich in den Monaten davor, während die amerikanische Bevölkerung von den Nachwehen der schlimmsten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression der frühen 30er Jahre gebeutelt wurde, vornehmlich mit der völligen Neuordnung der Gesundheitspolitik befasst. Anstatt ihre volle Kraft und das beachtliche politische Kapital, das dem neuen Präsidenten zu dieser Zeit zur Verfügung stand, dafür einzusetzen, der amerikanischen Volkswirtschaft mittels Steuersenkungen, sinnvollen Infrastrukturprogrammen und einer Förderung privater Investitionsausgaben zu neuen Wachstumsschüben zu verhelfen, wurde wertvolle Zeit und Energie für ein ideologisches Prestigeprojekt des linken Parteiflügels vergeudet und der mühsam erworbene Kredit innerhalb der Wählerschaft bereits nach Ablauf weniger Monate verspielt.

7 Jahre später scheint die Administration Trump aus den politischen und strategischen Fehlern ihrer Amtsvorgänger keine Lehren gezogen zu haben. Angetrieben durch die ideologische Blindheit ihres neuen Vorreiters im Repräsentantenhaus, Paul Ryan, der den politisch unerfahrenen Präsidenten Donald Trump als Steigbügelhalter für sein Steckenpferd eines radikalkonservativen Kurswechsels missbraucht, galoppiert der republikanische Kongress geradewegs in die selbe Sackgasse, in die Präsident Obama 7 Jahre zuvor ritt.

So wie einst die Demokraten verwechseln auch die Republikaner den Wahlsieg und das Mandat, das ihnen von der amerikanischen Wählerschaft erteilt wurde, mit einem Auftrag, die Nation in einer konservativen Wende radikal umzugestalten. It’s the economy stupid, rief Bill Clinton in der entscheidenden Wahldebatte seinem Kontrahenten George Bush einst zu, und wie es scheint, hat die republikanische Führung diesen Aufruf bis heute überhört.

6 Monate nach der Amtseinführung und rund 15 Monate vor den immer rascher näher rückenden Kongresswahlen ächzt und stöhnt die amerikanische Wirtschaft noch immer unter einem der weltweit höchsten Steuersätze, werden die Banken und Versicherungsunternehmen noch immer durch ein Übermaß an unnötigen und geradezu schädlichen Regulierungs- und Kapitalvorschriften belastet und liegen auf den ausländischen Konten noch immer mehr als 2 Billionen US-Dollar wie unnützer Ballast, der im Falle einer Repatriierung der Wirtschaft ungeahnte Wachstumsimpulse verleihen würde. Die Gesundheitsreform ist tot, nun ist es an der Zeit, die Ärmel hochzukrempeln und die Ampeln auf Wachstum zu stellen. Die USA haben 8 Jahre lang eine europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik betrieben und als Resultat genau das erhalten, was einer solchen Ausrichtung geziemt, nämlich europäische Wachstumsraten.

Doch eines, verehrte Leser, ist wahrhaft erstaunlich: Trotz dieses Fehlstarts der neuen Administration, trotz der chronischen schwachen Wachstumsraten der amerikanischen Volkswirtschaft und trotz der Blockadepolitik der demokratischen Partei verzeichnete der US-Aktienmarkt eine der höchsten Zuwachsraten der letzten Jahrzehnte. Seit dem Wahlsieg Donald Trumps liegen alle führenden amerikanischen Aktienindizes wie der Dow Jones, der S&P 500 sowie der Nasdaq zweistellig in der Gewinnzone. Das Konsumentenvertrauen befindet sich auf Rekordniveau, die Investitionsfreudigkeit der Unternehmen steigt langsam an und alle Frühindikatoren befinden sich auf oder zumindest nahe ihrer Allzeithochs.

Es ist also nicht das, was geschah, sondern vielmehr all das, was den Börsen und Unternehmen dank des verpassten Triumphs Hillary Clintons erspart blieb, was die Aktienmärkte beflügelt und in Euphorie versetzt. Zahllose angekündigte bürokratische Hürden, Regulierungsvorschriften und wirtschaftsfeindliche Verordnungen haben sich buchstäblich über Nacht in Luft aufgelöst, stattdessen durchweht Börsensäle und Vorstandsetagen eine frische, frühlingshafte Brise wiedererweckten und wiederentdeckten Unternehmergeistes.

Für börsenaffine Investoren bietet die nahe Zukunft nun 2 mögliche Szenarien, deren Eintrittswahrscheinlichkeit als durchaus gleichwertig einzuschätzen ist:

Im Falle einer Fortsetzung der Blockadepolitik Washingtons und einem Scheitern der geplanten Reformvorhaben wird die US-Wirtschaft voraussichtlich ihren Kurs des bedächtigen Wachstums im Bereich von 2 Prozent fortsetzen. Dies wiederum sollte es der Notenbank unter der derzeitigen und möglicherweise auch künftigen Präsidentin Janet Yellen erlauben, die behutsame, langsame Zinserhöhungspolitik zu prolongieren. Eine entscheidende Auswirkung hätte eine derartige Ausrichtung auf die Anleihenmärkte, an denen die Marktzinssätze der richtungsweisenden 10jährigen Staatsanleihen in einem derartigen Szenario kaum über 3 Prozent ansteigen dürften. Langfristig um und unter 3 Prozent verharrende Anleiherenditen lassen selbst die derzeitige Bewertungshöhe des Aktienmarktes jedoch durchaus preiswert erscheinen. Kalkuliert man mit der von uns bereits im Herbst des Vorjahres geschätzten Gewinnhöhe von 130 Indexpunkten (bezogen auf die operativen Gewinne) im Leitindex S&P 500, scheint der prognostizierte Jahresendstand von 2600 Indexpunkten realistisch. Dies ermöglicht dem Anleger in den verbleibenden Monaten einen potenziellen Kursgewinn von rund 5 Prozent.

Im Alternativszenario, das die Umsetzung eines massiven Steuersenkungsprogrammes im Fiskaljahr 2018 vorsieht, garniert durch Infrastrukturinvestitionen und einen massiven Bürokratieabbau, könnten die Gewinne im Jahr 2018 auf rund 145 Indexpunkte steigen. Multipliziert mit identischen KGV von 20 ergibt dies, auf das Jahresende 2018 bezogen, ein Kursziel von 2900 Indexpunkten. Dieses Kursziel entspricht einem möglichen Zuwachs von rund 17 Prozent innerhalb von rund 17 Monaten.

Die kommenden Wochen werden entscheidende Hinweise darauf geben, ob sich dieses optimistische, aber durchaus realistische Wachstumsszenario verwirklicht. Europäische Anleger würden in einem solchen Marktumfeld zusätzlich von einem Wiedererstarken der Weltleitwährung US-Dollar profitieren. Ein nicht zu vernachlässigendes Risiko, das der geneigte Investor in diesem Umfeld ebenfalls beachten sollte, sind signifikant steigende Anleihezinsen, die zu erhöhten Kursschwankungen und einer möglicherweise reduzierten Bewertungshöhe an den Aktienmärkten führen könnten.

Die vom Nobelpreisträger Robert Shiller entwickelte Bewertungskennziffer CAPE (cyclically adjusted price earnings ratio) liefert diesbezüglich erste Warnsignale. Im Gegensatz zu den üblichen, weit verbreiteten Bewertungsmethoden, misst die Kennzahl CAPE die Bewertungshöhe des Aktienmarktes als Verhältnis des aktuellen Indexstandes (S&P 500 von rund 2470 Indexpunkten) zum durchschnittlichen, inflationsadjustierten Gewinn der letzten 10 Jahre. Die aktuelle Höhe dieser gerade von Börsenskeptikern vielzitierten Kennzahl ist beachtlich:

Die Aktienbewertung befindet sich auf demselben Niveau, das im Vorfeld des Börsenkrachs von 1929 erreicht wurde, jedoch bereits deutlich höher als die Bewertung am schwarzen Montag des Jahres 1987!

Einzig das in der jüngeren Börsengeschichte beispiellose, vom schwindelerregenden Höhenflug der Internet- und New Economy Blase verursachte Plateau der Jahre 1999 und 2000 wurde während des aktuellen Anstieges der Aktienkurse nicht erreicht.

Der Anleger sollte also, trotz der durchaus vielversprechenden Aussichten, die Möglichkeit einer signifikanten Kurskorrektur im Auge behalten. Entscheidend dafür wird die Entwicklung der Anleihekurse sein.  Verharrt das Zinsniveau der Staatsanleihen dauerhaft auf dem aktuellen Niveau, dürfte auch die aktuelle Bewertung der Aktienmärkte mehr als gerechtfertigt sein, die Multiplikatoren sollten in einem derartigen Umfeld sogar weiter ansteigen.

Kommt es allerdings, verursacht durch ansteigende Inflationsraten oder eine verschärfte Kurskorrektur der Notenbanken, zu einem Anstieg der Zinssätze, ist der Höhenflug der Aktienkurse in Gefahr, Kurskorrekturen von 10 bis 20 Prozent sind in einem solchen Szenario jederzeit möglich und auch wahrscheinlich.

Value Investoren sollten weiter in US-Aktien investiert bleiben, in ihren Portfolios jedoch mehr Bargeld als üblich halten, um im Falle plötzlicher Kurskorrekturen jederzeit zugreifen zu können.

Ceterum censeo: Paul Ryan muss dem Beispiel des Stabschefs im Weißen Haus, Reince Priebus, folgen, und unverzüglich zurücktreten.